Witzwort vertellt

90: Ein Gerbergeselle „wandert“ quer durch Europa

Zwischen 1855 und 1863 wanderte der Witzworter Lohgerbergeselle Johann Ludwig Stamm kreuz und quer durch Europa.

Er machte drei Reisen, immer gemäß den strengen Regeln der Verordnung, die seit 1830 für die wandernden Handwerksgesellen aus den Herzogthümern Schleswig und Holstein galt. Dazu gehörte z.B., dass er sich nirgendwo länger aufhalten durfte, ohne zu arbeiten, und beim Weggang aus einer „Stadt oder einem zunftberechtigten Flecken“ schon das nächste Reiseziel angeben musste.

In seinem Wanderbuch sind die einzelnen Stationen seiner Reise dokumentiert und auch, wo er wie lange gearbeitet hat. Bis er Arbeit fand, musste er offensichtlich auch manchmal mehrere Tage von Stadt zu Stadt ziehen. „Wandern“ bedeutete nicht unbedingt, dass er zu Fuß ging. Dafür sind die Zeiten, die er für bestimmte Strecken brauchte, zu kurz. Oft fuhr er wohl mit der Bahn, obwohl das Streckennetz allerdings damals noch nicht sehr dicht war.

Man kann vermuten, dass Johann Ludwig Stamm nicht ganz mittellos auf Reisen ging. Denn er war der älteste Sohn des Lehnsmanns Johann Christian Jacob Stamm. Dieser bewirtschaftete ab 1837 als Schwiegersohn von Claus Hennings einen Hof im Osten Witzworts (Büttel 4). Der Hof liegt westlich der B 5 an der Abzweigung nach Friedrichstadt. Die Familie Stamm besaß auch den Riesbüllhof auf Koldenbütteler Gebiet.

Johann Ludwig Stamm hatte eine ältere Schwester und 4 jüngere Geschwister (3 Jungen, 1 Mädchen). Seine Brüder Christian Jacob und Hermann lebten später in London bzw. in den USA. In London waren sie als Viehkonzessionäre tätig, d.h. sie managten den Verkauf im Auftrag der Eigentümer. Die in der Marsch „fettgeweideten“ Ochsen wurden vom Tönninger Hafen nach England verschifft.

Aber warum lernte ein Eiderstedter Hoferbe den Beruf des Gerbers? Vielleicht weil im Viehgeschäft die Verwertung der Häute eine Zukunftsoption war? Später scheint Johann Ludwig Stamm allerdings nicht in diesem Beruf gearbeitet zu haben, da er vom Dorfchronisten Ludwig Oesau 1888 als Eigentümer des Hofes genannt wird. Oesau notierte auch (mit einem Fragezeichen), dass er 1894 starb und der Hof in den Besitz seiner Witwe Wilhelmine, geb. Postel überging. 1901 brannte der Hof ab und wurde verkauft.

Drei Reisen machte Johann Ludwig Stamm. Seine erste Reise von Juni 1855 bis Oktober 1957 führte ihn über Hannover (10 Monate Arbeit) und Sachsen-Anhalt nach Eilenburg in Sachsen (knapp 1½ Jahre Arbeit). Dann zog es ihn nach Hause. Als die Behörden das spitzkriegten, wollten sie ihn zum Militärdienst ziehen.

Dem entging er, indem er im Juni 1858 seine zweite Reise begann. Sie führte ihn über Kopenhagen nach St. Petersburg. Knapp 3 Monate arbeitete er in Tilsit (heute Sowetsk) in Ostpreußen, danach 9½ Monate in Danzig (heute Gdansk). Nun ging er nach Poltawa (damals Russland, heute Ukraine). Die Region war von Viehzucht geprägt. Deshalb gab es auch viele Betriebe zur Fellverarbeitung (besonders Lammfell). Stamm arbeitete dort ca. neun Monate und kehrte im Dezember 1861 nach Witzwort zurück.

Schon im Januar 1862 zog er wieder los. Auf der dritten Reise führten ihn kürzere Arbeitsaufenthalte nach Elmshorn, Stuttgart und Solingen. Ende September reiste er nach London zu seinen Brüdern und vierzehn Tage später über Frankreich in die Schweiz (6 Monate Arbeit, Kanton Bern). Nach einem Umweg über Italien arbeitete er noch in Bayern und Sachsen, bevor er im Juli 1863 die Rückreise nach Witzwort antrat.

Welche Fortbildungsmöglichkeiten die Wanderjahre boten! Stamm lernte die Gerbertechnogien Europas kennen. Da können heutige Auszubildende nur von träumen.
Das Wanderbuch des Johann Ludwig Stamm übergab sein Nachfahre Hans-Hermann Bock-Carstens aus Koldenbüttel der Witzworter Archivgruppe im August 2023, zusammen mit der kommentierten Abschrift von August Bock, auf der dieser Bericht aufbaut. Herzlichen Dank dafür!

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