Witzwort vertellt

20. Witzwort, die Eisenbahn und ein spektakulärer Unglücksfall

Die Witzworter wollten keine Eisenbahn: 1844 forderte das Kirchspiel, „dass die beabsichtigte Eisenbahn zwischen Husum und Tönning nicht ins Leben trete, weil dieselbe ein Ruin für die Landschaft Eiderstedt würde“.

Aber 10 Jahre später haben sie trotzdem eine gekriegt: die bereits seit 1837 projektierte Strecke von Flensburg über Husum nach Tönning führte durch das Kirchspiel Witzwort. Die Strecke diente vor allem dem Viehtransport. Nachdem 1842 die britische Regierung den Fleischimport freigegeben hatte, weil der Nahrungsmittelbedarf der wachsenden Industriestädte nicht mehr aus dem eigenen Land gedeckt werden konnte, war der Viehexport von Tönning aus stark angestiegen. Eiderstedt profitierte davon in besonderem Maße: Die Bauern mästeten das Magervieh, das sie im Frühjahr in Husum auf dem Markt gekauft hatten, auf den saftigen Marschwiesen über den Sommer und verkauften es dann mit Gewinn. Jährlich gingen bis zu 50.000 Rinder und 60.000 Schafe auf die „engelsche Fahrt“. Dass die Kirchspielsvertreter 1844 befürchteten, durch den Bau der Eisenbahnlinie ihren Standortvorteil zu verlieren, ist also durchaus verständlich.     

Das Kapital für den Bau der Bahnstrecke stellte die englische Reederei Northern Steam Packet Company zur Verfügung, die sich davon auch eine verbesserte Verbindung zu den Märkten an der Ostsee versprach. Die Bahnverbindung erhielt den Namen „Frederik VII. Südschleswigsche Eisenbahn“ und wurde vom dänischen König am 25. Oktober 1854 eingeweiht. Der lukrative Viehexport nach England hielt aber nicht lange an: 1889 erging ein erneutes Einfuhrverbot für Vieh. Der Umschlag über den Tönninger Hafen und damit auch die Bedeutung der Bahnstrecke gingen stark zurück. Hinzu kam, dass ein Jahr vorher die Marschbahn über Friedrichstadt fertig gestellt worden war, so dass Tönning von der Nord-Süd-Verbindung „abgehängt“ war.

Die Bahnstrecke von Husum nach Tönning, die später bis St. Peter-Ording verlängert wurde, diente fortan mehr regionalen Transportbedürfnissen – nicht zuletzt dem Personentransport. Und über den weiß ein Zeitungsbericht Spektakuläres zu erzählen: „4. Mai 1922: Vierfacher Unglücksfall in der vierten Klasse. Als Schlachtermeister Hansen aus Witzwort in ein überfülltes Abteil vierter Klasse steigen wollte, wurde die Tür zugeschlagen und ihm ein Glied des Ringfingers abgequetscht. Eine mitfahrende Frau erlitt darüber einen Krämpfeanfall, und als man sie auf die Bank legte, entsetzten sich über diesen Anblick zwei andere Frauen derartig, dass sie in Ohnmacht fielen“. Die vierte „billigste“ Klasse wurde bei der Reichsbahn seit den 1850er Jahren angeboten. Die Waggons und die Fahrkarten dieser Klasse waren grau (1. Klasse = gelb, 2. Klasse = grün, 3. Klasse = braun). Waggons vierter Klasse boten nur wenige Sitzbänke, dafür Platz für große Gepäckstücke.  

Das Foto von 1914 zeigt links den Witzworter Bahnhof mit Empfangsgebäude. Rechts ist der Eiderstedter Hof zu sehen. Wissenswertes über die Bahnstrecke Husum–St. Peter-Ording findet man auf der Website von René Kokert, der uns auch den Pressebericht zur Verfügung stellte: /www.bahn-auf-eiderstedt.repage.de

Zurück