Witzwort vertellt

61: Als Witzwort einmal (fast) mitten im Kriegsgeschehen war

Diesmal müsste unsere Rubrik eigentlich „Simonsberg vertellt“ heißen. Denn das Flugzeug, von dem berichtet wird, landete zwar in Witzwort, rutschte dann aber rüber nach Simonsberg. Und der Witzworter Hans Wilhelm Röckendorf war an diesem Tag nicht zuhause und hat von dem Ganzen nichts mitgekriegt!

Nun aber zu der Geschichte: Am 5. Januar 1944 musste an der Grenze zwischen Witzwort und Simonsberg ein amerikanischer Bomber notlanden. Die B 17, „Barrel House Bessie“ getauft, war auf dem Weg zurück nach Schweden, nachdem sie Kiel bombardiert hatte. Weil die Motoren zerschossen waren und eines der zehn Besatzungsmitglieder, der 22-jährige Chuck Mercer, eine Schussverletzung am Bein hatte, entschloss sich der Pilot zur Notlandung. 1999, 45 Jahre später, kam Mercer noch einmal nach Simonsberg, um die Region und die Leute, die ihn damals versorgt hatten, wiederzusehen.

Sein damaliger deutscher Begleiter, Roland Geiger, notierte Mercers Bericht über den Absturz: „Das Flugzeug setzt auf und rutscht über den Boden. Es liegt Schnee, nur ein paar Zentimeter hoch, vielleicht ist es deswegen so gut gerutscht. Über einen Graben hinweg, dann bleibt es liegen. Alle springen hinaus, Chuck wird von zwei Kameraden hinausgetragen bzw. sie fassen links und rechts unter und helfen ihm hinaus.

Sie werden getrennt; die (unverletzten) Männer werden zu einem Gasthaus geführt und dort vornedran aufgestellt, während Chuck in ein nahegelegenes Haus gebracht wird. Hier legt man ihn auf einen Tisch. Eine Frau schneidet ihm das Hosenbein herunter; sie hat ein bisschen zu tun, bis sie sich durch die verschiedenen Lagen Kleidung hindurchgeschnitten hat. Die Wunde wird gesäubert, eine Bandage angelegt. Zwei Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, schenkt er die Schokoladeriegel, die er in seiner Uniform bei sich trägt. Zu Fuß humpelt er zu dem Gasthaus, wo er seine Kameraden wiedertrifft.“

Die gefangenen Soldaten werden dann nach Schleswig und weiter in die Nähe von Frankfurt gebracht, wo Chuck Mercer medizinisch versorgt wird.
1999 traf sich Chuck Mercer auch mit drei Augenzeugen von damals: Johannes Matthiesen, Walter Thomsen und Walter Bees. Johannes Matthiesen erzählte, dass er damals elf Jahre alt war und auf dem Westerdeich wohnte, zwei Häuser neben dem Haus, in das Chuck gebracht wurde. Roland Geiger schrieb auch auf, was Matthiessen berichtete:

„Er sah das Flugzeug tief näherkommen, mindestens drei Motoren standen. Dann setzte es auf einer Fenne am Obbenskoog auf und schlidderte Richtung Westerdeich (Entfernung ca. 500 m). Es überquerte den Obbenskoogweg, riß ein Holztor um (…) und rutschte weiter auf die Weide unterhalb des Hauses, die heute noch Matthiesen gehört. (…) Es blieb dann liegen, hinten rechts öffnete sich eine Tür, und Männer kamen heraus. Über ihnen kreiste eine Focke Wulf 190. Einer der Männer ist verwundet; man brachte ihn ins Haus von Matthiesens Onkel Johannes Möller (das mittlere von dreien) in die Küche und legte ihn auf den Tisch. Dort wird er von Matthiesens Tante, Annemarie Martens, versorgt. Von einer anderen Tante, Anna Jensen, erhält er trockene Strümpfe, weil seine klitschnass sind. Als er versorgt ist, bringt man ihn zu den anderen zum Gasthaus am Dreisprung.

Matthiesen ist mit seinen Kameraden oft im Flugzeug und nimmt allerhand nützliche (und unnütze) Dinge mit. Sie spielen mit den Kontrollen und bewegen damit das Ruder und die Klappen im Heck. Etwa im April wird das Flugzeug auseinandergebaut (…) und abtransportiert. Die anderen beiden Augenzeugen bestätigen in etwa das, was Matthiesen erzählt. Thomsen, damals 13 Jahre alt, erinnert sich deutlich an die Schokolade, die sie von den Amerikanern erhielten; zuerst traute sich keiner davon zu essen, weil jeder meinte, sie sei vergiftet.“

Der Witzworter Lehrer Ludwig Oesau machte mit seinen Schülern einige Tage später einen Ausflug zur Absturzstelle. Heinrich Alberts erinnert sich, dass sie aus dem Plexiglas der Pilotenkanzel Lineale geschnitten haben.

Die Fotos hat uns Roland Geiger freundlicherweise zur Verfügung gestellt: Oben sieht man Chuck Mercer 1999 an der Absturzstelle, rechts unten „sein“ Flugzeug. Die Karte zeigt die Absturzstelle. Geigers Bericht über „Chuck Mercers zweiten Besuch in Simonsberg“ findet man im hier: http://www.luftfahrtspuren.de/reisebericht.htm

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